Kurzgeschichten

No. 1

Mai 2015

  Der Erwartungsdruck beginnt sofort nach der Geburt:
  Du sollst atmen!
  Gleich mehrere Personen um dich herum überwachen penibel, dass du alles richtig machst. Und wenn nicht...: Schläge!
  Der Rest des Lebens läuft ähnlich ab...



No. 2

19.8.2015

  Im Mai 2016 kam, selbst für die Zeugen Jehovas völlig überraschend, Jesus zurück auf die Erde.
  Für sein Erscheinen hatte er sich den 100. Katholikentag in Leipzig ausgewählt.
  Das Interesse an dieser Veranstaltung war vorher marginal gewesen, doch als feststand: ER ist es wirklich!, war die Aufregung groß:
  Sogar der Münster-Tatort wurde verschoben.
  Es gab einen einstündigen Brennpunkt, direkt nach der Tagesschau. ZDF und RTL übertrugen ebenfalls live.
  Jesus hatte überraschend kurze Haare und war modisch gekleidet, aber sein Hang, Gleichnisse zu erzählen, war immer noch sehr ausgeprägt. Was er die letzten 2000 Jahre getrieben hatte, blieb somit im Geheimnisvollen.
  Die Zuschauer bei RTL verpassten zweimal die Pointe der Gleichnisse, einmal wegen einer Werbeunterbrechung, beim zweiten Mal gab es gerade einen Programmhinweis auf DSDS.
  Als der Moderator auf tagespolitische Themen kam, wurde Jesus konkreter.
  „Herr Christus, was sagen Sie zum aktuellen Flüchtlingsproblem in Deutschland?“
  „Nun, Flüchtlinge haben wirklich schlimme Probleme. Ich war ja selbst mit meinen Eltern Flüchtling in Ägypten und wurde dort, obwohl die Bewohner selber nicht viel hatten...“
  „Entschuldigung. Über Ihre Vergangenheit haben wir uns jetzt ja lange unterhalten. Meine Frage zielte auf die Gegenwart und auf uns hier in Deutschland. Die Kommunen sind überlastet, die Stimmung in der Bevölkerung kippt. Die Zahl der Flüchtlinge und die Kosten für ihre Unterbringung werden sich in diesem Jahr wahrscheinlich schon wieder verdoppeln. Wie sollen wir damit umgehen?“
  „Eigentlich habe ich dazu alles Entscheidende schon vor 2000 Jahren gesagt: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘ und ‚Was ihr getan habt, einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan!‘ “
  „Das klingt sehr schön, aber, wir können doch nicht alle aufnehmen!“
  „Wissen Sie, ich hatte vor 2000 Jahren mal ein ähnliches Problem. Ich wollte eigentlich ganz für mich allein sein und meine Ruhe haben, aber ungefragt kamen ganz viele Menschen zu mir und wollten, dass ich ihnen helfe. Das habe ich dann auch getan.
Am Abend waren ungefähr 5000 Männer und zusätzlich noch Frauen und Kinder bei uns und sie bekamen Hunger. Es gab Besorgte Jünger, die zu mir sagten: ‚Herr, das sind viel zu viele Menschen, wir haben nur 5 Brote und 2 Fische! Wir können doch nicht für alle sorgen!‘ Sie forderten mich auf, sie wegzuschicken. Das wäre aber genau das Gegenteil von dem gewesen, was ich immer gepredigt hatte. Nein. Wir haben, mit allen die gekommen waren, das Wenige geteilt, was wir hatten und siehe da, sie teilten auch, denn sie besaßen Dinge, von denen wir gar nichts wussten. Am Ende waren alle satt und glücklich und es blieben noch 12 Körbe voll Brot und Fisch übrig. Dankbares Teilen kann das Leben sehr bereicheren. Ich wage mir gar nicht mir vorzustellen, wie schlecht uns der Fisch geschmeckt hätte, wenn wir sie alle hungrig nach Hause geschickt hätten.“
  „Mal eine ganz andere Frage: Warum sind Sie ausgerechnet in Deutschland erschienen?“
  „Ich hatte das Gefühl, hier würde ich am nötigsten gebraucht.“
  „Bei der Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen die Islamisierung?“
  „Christliches Abendland? Der ist gut. Soweit ich weiß, wird hier doch schon seit langem das Goldene Kalb angebetet.“
  Zum Glück für den leicht überforderten Moderator erschien nun die eiligst eingeflogene Bundeskanzlerin im Studio.
  Frau Merkel begrüßte den Heiland mit einem Kuss auf die Wange, hieß ihn in Deutschland herzlich willkommen und lobte ihn, dass er ganz toll dargestellt habe, in welche Situationen man kommen könne. Aber...

  P.S.:
  Ende Juni sprach die Kanzlerin Jesus das vollste Vertrauen aus.
  Am 10. Juli 2016 wurde Jesus, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, in einem Biergarten in Berlin-Kreuzberg gekreuzigt. Das gleichzeitig stattfindende Endspiel der Europameisterschaft zwischen Deutschland und Frankreich verfolgten knapp 40 Millionen Zuschauer im Fernsehen.
  Aufgrund einer unerwarteten Einnahme von dreißig Silberlingen, gelang es Herrn Schäuble doch noch, den dritten Haushalt in Folge mit einer schwarzen Null abzuschließen. Die Umfragewerte der CDU stiegen an; die der Kanzlerin lagen schon vorher bei über 100%...

  (Hier der Link zum Berliner Biergarten...: http://www.golgatha-berlin.de/)

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